Am 5. November 2011 hält Timo Kölling, Dichter und Philosoph einen Vortrag über Leopold Ziegler

(s.u.) die schriftliche Form seines Vortrages:

Leopold Ziegler und das Glück des philosophischen Lebens

von Timo Kölling

 

Vortrag am 5. November 2011 im Überlinger Suso-Haus unter dem Titel

»Leopold Ziegler im Blick«

Der Blick, den der Titel des Vortrags auf den Philosophen zu werfen verspricht, der mehr als dreißig Jahre seines Lebens hier in Überlingen verbracht hat, und der vor 53 Jahren, im November 1958, im Alter von 77 Jahren in seinem Haus in der Goldbacher Straße starb, - dieser Blick soll an einem trivial klingenden Begriff sich entzünden, von dem ich indes glaube, daß er aufzuschließen imstande ist, worin Zieglers Leben und Werk in sehr tiefer Weise zusammenhängen, sich gegenseitig bedingen, ja als untrennbar voneinander sich erweisen und, wie man in Zieglers eigener Sprache auch sagen könnte, eine gestalthafte Einheit bilden. Ich spreche von dem Begriff (und damit auch von der Sache) des Glücks.

Das Glück ist eigentlich erst in neuester Zeit zu einem Thema geworden, mit dem sich die Philosophen beschäftigen. Die akademische Philosophie ist lange Zeit hochmütig am Glück vorübergegangen, als handle es sich bei ihm um einen der Erkenntnis unwürdigen Zustand, um eine Phantasmagorie unterer Bevölkerungsschichten, »einfacher Menschen«, die mit dem Anliegen ihres Glücksverlangens bei Priestern und Gurus besser aufgehoben seien als bei ernstzunehmenden Philosophen. Plötzlich aber, in den letzten Jahren, ganz aktuell, erscheinen Bücher zu dem Thema, populärphilosophische wie anspruchsvollere, werden Seminare und Symposien veranstaltet zur Frage des Glücks und des glücklichen Lebens, ja die Philosophen sind sich auf einmal nicht mehr zu schade, nicht allein wissenschaftlich und historisch das Thema zu beleuchten, sondern auch selbst Ratschläge zu geben, wie ein glückliches Leben sich einrichten lasse und auf welche Weise tunlichst nicht. Man kann, ohne das bewerten zu wollen, feststellen, daß es eine Angleichung der Philosophie an die heutige Lebenswelt ist, die sich darin vollzieht, nicht zuletzt ein Versuch der Philosophen, sich Gehör zu verschaffen in einer Öffentlichkeit, der man immer wieder neu erklären muß, wozu Philosophie überhaupt noch getrieben wird. Was liegt da, in der Gefahr des Überhörtwerdens, näher, als ein Thema aufzugreifen, das alle angeht, und über das die Naturwissenschaftler so wenig Auskunft geben können, wie man den Theologen, den Politikern und den Ökonomen in dieser Hinsicht Antwort noch zugesteht. Wir alle gehen ja mehr oder weniger davon aus und haben nicht per se unrecht damit, ein jeder habe das Recht, den Zustand des Glücks anzustreben, sein Leben so zu planen und zu führen, daß es ihn glücklich macht. Ja nicht wenige erheben das Glück zum höchsten Lebensprinzip, was, wie wir längst wissen, seine problematischen Seiten hat, wenn man bedenkt, wie verrungen unser Glücklichsein mit dem materiellen Wohlstand ist, der seinerseits einem System beispiellosen Prassertums und, global betrachtet, beispielloser Natur- und Menschenausbeutung aufruht. Es ist erstaunlich, wie sich auf diese Weise die Frage einer globalen Moralität mit dem Glück eines jeden Einzelnen vermischt, das wir als Anspruch ja durchaus ernst nehmen müssen. »Hauptsache, du bist glücklich«, lautet die Wendung, mit der wir unseren Mitmenschen Mut zu machen pflegen, wenn sie vor umwälzenden Entscheidungen stehen, mit denen sie sich schwertun, weil es Entscheidungen sind, von denen sie wissen, daß sie ihren Nächsten schwer verständlich sein und egoistisch vorkommen werden.

Je selbstverständlicher wir aber davon ausgehen, daß es sich bei dem Glücklichsein um ein Grundrecht und also auch irgendwie um ein Naturrecht handelt, um ein fundamentales Anliegen des Menschenwesens also, das ohne die Erfahrung des Glücks möglicherweise an sich verzweifeln müßte, desto erstaunter nehmen wir zur Kenntnis, daß das Glück im Denken früherer Jahrhunderte, soweit es uns überliefert ist, kaum je eine bestimmende Rolle gespielt hat. Und nicht allein das: Man könnte sogar, was die lebenspraktische Seite der Philosophie anbetrifft, von einer Denunzierung des Glücks als eines dem höheren Menschen eigentlich unwürdigen Zustands sprechen, die sich durch die Jahrhunderte zieht als Folge der Annahme, das Streben nach Glück, das entfesselte Begehren nach ihm, verhindere das geglückte Leben eher, als es zu fördern. Das Glück existierte zwar für die Götter und lebte im Mythos; kaum aber ließ es sich in den irdischen Stand einer existentiellen Bedürftigkeit transponieren, über deren sozusagen strukturelle Glücklosigkeit sich die klassischen Denker der Antike sowenig Illusionen machten wie die christlichen Theologen des Mittelalters. Sehen wir von einzelnen eudämonistischen oder, seltener, offen hedonistischen Strömungen ab, so müssen wir sagen, daß die Denunzierung des Glücks in der Philosophie herrschend war von Heraklits Verachtung des Glücks der Vielen und Platons Forderung nach Selbstüberwindung bis hin zu Kants Apotheose des Pflichtbegriffs und Hegels Feststellung, die glücklichsten Epochen der Menschheit seien die weltgeschichtlich betrachtet am wenigsten ergiebigen gewesen. Und noch Nietzsche hat ja das Credo der Philosophen in die Worte zusammengefaßt: »Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte nach meinem Werke!« Die bedeutenden Werke, so haben es eben die Philosophen die längste Zeit geglaubt und gewollt, haben ihren Entstehungsgrund in einer interesselosen Erkenntnis des Seins als Seienden, die sich mit einem Streben nach irdischer Glückseligkeit tunlichst nicht verwechseln soll. Letzteres war höchstens Sache der Dichter, die seit Archilochos, Sappho und Pindar das Glück des erfüllten Augenblicks, des Siegs, der Unsterblichkeit und der Liebe besungen haben, in philosophicis und in politicis aber möglichst nicht sollten mitreden dürfen.

Im Grunde hat erst Rousseau mit der Tradition einer philosophischen Denunzierung des Glücks gebrochen und das Glück der Menschheit wie des Einzelnen zu einem ausdrücklichen Thema und praktischen Zweck der Philosophie erhoben. Aber auch er glaubte, vor allem in seinem Spätwerk, den »Rêveries du Promeneur Solitaire«, das Glück der Menschheit als eine Utopie durchschaut zu haben, die zwar einerseits nicht aufgegeben werden dürfe, die aber realistischerweise immer nur für wenige glücksfähige Einzelne gelte. Bei Rousseau ist denn auch noch nichts spürbar von der späteren Annahme der bürgerlichen Ökonomen wie der Marxisten, das Glück der Menschheit falle mit deren materieller Zufriedenheit zusammen. Eher ist es für den Verfasser der »Rêveries« so, daß der glückliche Zustand kein anderer als der bedürfnislose ist, der Naturzustand, in den zeitlos und ruhevoll sich eingebettet zu fühlen die Gabe immer nur weniger Menschen und nicht zuletzt der Idealzustand des Philosophen sei. Der Münchener Philosoph Heinrich Meier, der durch seine Arbeiten zum Thema von Leo Strauss und Carl Schmitt bekannt geworden ist, und der in dem späten Rousseau den Idealfall eines Politischen Philosophen erkennt, beschreibt dieses Glück des Naturzustands als den eines philosophischen »Beisichseins« und »Sichselbstgenügens«. Gerade indem der Philosoph kein anderes Bedürfnis mehr hegt als eine letztlich und eigentlich doch nur Gott vorbehaltene Identität mit sich selbst, gewinnt er zu den Dingen der Welt und den öffentlichen Einrichtungen jene Distanz, die ihn befähigt, von Grund auf politisch zu denken und das Ganze des Daseins auf das Fundament einer Vernunft zu stellen, die keinem anderen Maßstab sich beugt als dem des eigenen Gewissens.

Das Glück als Sicheinschwingen in den Naturzustand - man kann sagen, daß keine Vorstellung geeigneter war, das Glücksideal in das Denken der westlichen Gesellschaft zu implantieren. Denn diese Idee war paradoxerweise besser mit den Voraussetzungen des entfesselten Kapitalismus versöhnbar, als die christlichen Begriffe der Übernatur, der Gnade, des Heils es waren. Paradox ist das deshalb, weil es das Doppelantlitz des Kapitalismus ist, einerseits die Natur auszubeuten und zu vernichten, andererseits den Menschen in einem unerhörten Maße auf das Natürliche zu reduzieren, auf den bloßen Kreislauf des Produzierens, Konsumierens und Ausscheidens, der Trieberregung und Triebbefriedigung, des Anhäufens und Wegwerfens mit immer rasenderer Betonung des Wegwerfens im Zeichen einer entfesselten waste economy. Das echte und das falsche Glück - sie lassen sich vor diesem Hintergrund kaum noch voneinander unterscheiden; der Naturzustand, der einerseits sich als der glückliche erfährt, ist andererseits gerade jener, dessen der Kapitalismus bedarf, um den Menschen zu jener Konsummaschine zu degradieren, die das sogenannte Wachstum ankurbelt, welches sich seiner inneren Verfaßtheit gemäß nicht fragt und gar nicht fragen kann, wohin es eigentlich wachsen will.

Leopold Ziegler war ein früher und scharfsinniger Beobachter und Kritiker dieses Prozesses, und er wurde es aus einem ganz bestimmten Grund: seinem Glücksverlangen, einer Sehnsucht nach Glück, die ihn sein ganzes Leben lang begleitet hat. Diese Sehnsucht befähigte ihn, einen äußerst kontemplativ veranlagten Menschen, die Illusionen falscher Glücksversprechen zu durchschauen, um immer wieder neu nach der Realisierbarkeit der echten zu fragen. Diese Dialektik soll denn im folgenden auch das Vergrößerungsglas sein, mit dessen Hilfe ich Zieglers Leben und Werk in den Blick nehmen möchte. Denn in der Tat ist es möglich, von Phasen im Denken des Philosophen zu sprechen, die sich anhand der jeweiligen epochalen Glücksillusion definieren lassen, die es zu durchschauen und zu durchstoßen galt. Da wäre zunächst die Glücksillusion der Kunst, in welcher der heranwachsende Ziegler zwar wie so viele andere wagnerbegeisterte Jünglinge sein Heil suchte, mit der er 1910 aber in einem Aufsatz abrechnete, dem er den Titel »Wagner. Die Tyrannis des Gesamtkunstwerks« gab. Da wäre in der Folge die Glücksillusion des Kriegserlebnisses und der Beschwörung des deutschen Volksgeistes, welcher Ziegler zwar 1914 kurzzeitig selbst erlag - nur aber, um sich schnell zu einem scharfen Kritiker dieser Massenbegeisterung und der nach dem Krieg aufkommenden nationalistischen Apologien zu entwickeln. Da wären die Glücksillusionen des Marxismus und eines entfesselten Ökonomismus, denen Ziegler in den späten zwanziger Jahren das Konzept einer Wirtschaft entgegensetzte, die sich an dem realen Bedarf des Menschen, nicht an künstlich erregten Bedürfnissen zu orientieren hätte. Da wären Anfang der dreißiger Jahre die Glücksversprechen Hitlers, gegen die Ziegler von Anfang an resistent gewesen ist, und gegen die er sehr deutlich Position bezogen hat; und da wären, schließlich, die Glücksversprechen des Wirtschaftswachstums in der jungen Bundesrepublik, denen Ziegler seine Überzeugung entgegensetzte, was immer der Deutsche nach der Schuld, die er in zwei Weltkriegen auf sich geladen hatte, jetzt neu beginne, müsse in dem Fundament einer wirklich und wahrhaftig vollzogenen religiösen Umkehr gründen.

Zu solcher fundamentalen Kritik des jeweils herrschenden Zeitgeistes war Ziegler aber gerade deshalb fähig, weil es sich bei ihm um einen Menschen handelte, den ein überaus intensives Glücksverlangen antrieb, und das heißt in seinem Fall dreierlei: zum einen, daß er kein von Natur aus und seiner Konstitution gemäß glücklicher, sondern im Gegenteil oftmals eher unglücklicher Mensch war; zum zweiten, daß er Glückserfahrungen von außerordentlicher Intensität kannte, die ihm fortan zum Maßstab seines ganzen Lebens und Denkens werden sollten; und es heißt zum dritten, daß er gegenüber dem realen Eintreffen von Glück und Unglück in seinem Leben, ohne darob an Empfindsamkeit und Feinfühligkeit einzubüßen, doch eine gewisse Resistenz entwickelte, die ihn indes nicht dazu führte, nach dem traditionellen Muster der Philosophie das Glück als unwichtigen oder niedrigen Zustand zu denunzieren. Man kann sagen, gerade durch diese Resistenz gewann Ziegler in sich den inneren Raum eines glücklichen philosophischen Beisichseins, den Raum einer großen, freilich immer wieder auch hart umkämpften Unbeirrbarkeit in seinem ganzen Denken, Schreiben und Handeln.

Nehmen wir nun also ganz konkret Zieglers Werk in den Blick und, untrennbar davon und gewissermaßen vorgeschaltet, sein Leben, die Elemente des Unglücks wie des Glücks in ihm. Geboren wird Ziegler am 30. April 1881 in Karlsruhe, wo er auch aufwächst. Seine Eltern sind unterschiedlicher Konfession: der Vater katholisch, die Mutter evangelisch. Diesem Umstand wird er später einige Bedeutung beimessen, als er zu der überkonfessionellen Fassung des Christentums gelangt, wie sie sein Spätwerk charakterisiert. Der Vater ist Kaufmann und betreibt ein Bilderrahmengeschäft, stirbt aber bereits in seinen frühen Vierzigern an Tuberkulose. Von ihm hat Ziegler, wie er später vermutet, die »Abneigung gegen alles Militärische« geerbt. Die ohnehin enge Bindung des sensiblen und verträumten Leopold an die Mutter Magdalena Ziegler, Tochter des Großherzoglichen Hofoffizianten Gregor Weiß, wird durch den Tod des Vaters noch weiter befestigt (Glück und Unglück eines solchen mütterlichen Behütetseins liegen freilich nahe beieinander.)

Ziegler erhält von den Eltern wenig geistige Anregung und Förderung und ist ein schlechter Schüler. Er wird vom humanistischen Gymnasium, wo der Lateinlehrer ihm bescheinigt, er »tauge wohl höchstens zum Kaufmann«, auf die Realschule verwiesen und muß ein Schuljahr wiederholen. Später erinnert er sich: »Damals kam mein Leben auf ein falsches Gleis, und noch heute neide ich dem ›absolvierten‹ Pennäler seine Humaniora, ich weiß nicht, ob mit oder ohne tiefere Gründe.« Ziegler entdeckt in diesen, den 1890er Jahren auf eigene Faust jene geistige Welt, die Elternhaus und Schule ihm vorenthalten. Vor allem Wagners Oper und Schopenhauers Philosophie wecken seine Begeisterung, er berauscht sich an der Musik und an der eigenen daran sich entzündenden Gedankenwelt. Seinen Mitschülern geht er aus dem Weg, schließt 1896 aber, 15-jährig, Freundschaft mit dem drei Jahre älteren Karl Hofer, dem Maler, einem selbständigen und rebellischen Charakter. Hofers frühe Arbeiten, vom Symbolismus inspirierte Zeichnungen und Graphiken, beeindrucken den Jüngeren. In der autobiographischen Skizze »Mein Leben« schreibt Ziegler später: »Hier trat mir der Maler als schlechthin dämonisches Element entgegen, von einer unterbewußten Bildervorwelt, Bilderurwelt unheimlich verzaubert und behext: aus tiefsten Schichten, ältesten Schichten der Menschenseele aufsteigend, gibt sie beklemmende Kunde von einer Vergangenheit, die sonst nur noch in Träumen vom Spiegel des Bewußtseins aufgefangen wird.« Hier zeigt sich bereits etwas ganz wesentliches, einer der wesentlichsten Züge überhaupt zum Verständnis von Zieglers Philosophie. Ziegler begreift die Kunst, die sein großes Jugenderlebnis ist, nicht als ein selbstgenügsames, nur ästhetisches Wesen; und er begreift den Künstler auch nicht als einen, der »Kunst macht«. Vielmehr gibt die Kunst existentiellen Urerfahrungen eine Form, in denen sich der Mensch einer Kraft gegenüber gestellt sieht, die nicht er selbst ist, wie immer man diese Kraft auch nennen mag: ob das Archaische, das Unbewußte, das Heilige oder Gott.

Karl Hofer schreibt in seinen Lebenserinnerungen über seine Freundschaft zu Ziegler: »Wir trafen des öfteren zusammen und schwelgten in künstlerischen Träumen und phantastischen Vorstellungen, die sich um das Theater, die Oper und um Dinge der Kunst im allgemeinen drehten.« Ziegler hat später gerne an diese Zeit zurückgedacht, besonders an die gemeinsam veranstalteten und von ihm so genannten »schwärmerischen Musikabende«, zu denen oft auch der junge Alfred Mombert, der Lyriker, erscheint. Auch Ziegler selbst hat einige lyrische Gehversuche unternommen, sie aber nie veröffentlicht und später auch kaum je überhaupt erwähnt, auch wenn er sie den Freunden gewiß vorgelesen haben wird, wenn sie sich trafen. Die Glückserfahrung eines den Mühen und Problemen des Alltags vollkommen enthobenen Zusammenseins im Zeichen der Kunst, oder besser gesagt: eines Archaischen in der Kunst, das, so mußte Ziegler es empfinden, von einer sich breitmachenden Bürgerlichkeit verschüttet worden war, hat Ziegler geprägt wie kaum etwas anderes. Hier mochte Ziegler etwas sehr wichtiges, ja unentbehrliches erfahren haben: daß es einen Sinn der Freundschaft gibt, der Stiftung ist, in einer weit über den nur persönlichen Rahmen hinausreichenden geistigen Bedeutung. Die Produktivität Hofers und die Entschiedenheit, mit welcher dieser einer Existenz als freier Künstler zustrebt, führen denn auch dazu, daß Ziegler als Philosoph es dem Freund gleichzutun sucht. Doch von der Rücksichtslosigkeit, mit der Hofer sein Malerleben realisiert - zeitweise völlig verarmt in Paris hungernd, so daß sogar Mutter Ziegler ihm Geld schicken muß - ist der werdende Philosoph weit entfernt. Hofer spricht in einem Brief einmal leicht ironisch von Zieglers »complizirten Bedürfnissen« - Leopold ist in den Augen des Älteren das Muttersöhnchen, das auf einen gewissen bürgerlichen Komfort im Leben nicht verzichten möchte und nicht jeden Preis zu bezahlen bereit ist für ein Leben in unbürgerlicher Freiheit. »Liebes Kind«, redet Hofer den Jüngeren in Briefen desöfteren an.

Es ist sein letztes Jahr an der Oberrealschule, als Ziegler von einem Privatissimum erfährt, welches der damals recht bekannte, heute eher vergessene Philosoph Arthur Drews an der Technischen Hochschule in Karlsruhe über die Erkenntnislehre Eduard von Hartmanns hält, des Verfassers der von Schopenhauer beeinflußten Psychologie des Unbewußten. Ziegler, großer Schopenhauer- und zu diesem Zeitpunkt auch bereits Hartmann-Verehrer, bittet, obwohl noch nicht Student, um Zulassung, die ihm auch gewährt wird. Hier lernt er nun die weiteren philosophischen Implikationen des Begriffs des »Unbewußten« kennen, die es ihm erlauben werden, im Zeichen eben jenes Archaischen zu philosophieren, das ihn an den Bildern seines Freundes Hofer ebenso fasziniert wie an Wagners Oper. Drews setzt große Hoffnungen auf seinen neuen Schüler, ermuntert ihn, das früher so gehaßte Latein nachzuholen und Philosophie zu studieren. Aber mehr noch: er schürt in Ziegler das Bewußtsein, »eine Mission im Leben zu erfüllen [zu] haben«, wie es in einem Brief von Anfang 1903 heißt, und rät ihm zur Beschäftigung mit Philosophen, die von dem damals vorherrschenden akademischen Neukantianismus kaum beachtet werden, ja in überaus schlechtem Ruf stehen: etwa Fichte, Hegel und Schelling, Plotin, Meister Eckhart und Nietzsche. Einen solch schlechten Ruf hat, als Schopenhauerianer, freilich auch Eduard von Hartmann selbst. Zusammen mit Drews sucht Ziegler den verehrten Philosophen zu dessen 60. Geburtstag dann auch persönlich auf. »Ich war bewegt«, erinnert Ziegler sich 20 Jahre später, »als ich einen Greis mit Krücken auf mich zuschreiten sah, so abgezehrten Leibes, daß er den mächtigen Schädel kaum stützen zu können schien. Der Blick zweier ungewöhnlich großen, aber kühlen und unbeteiligten Augen ruht noch auf mir; das etwas ungeduldige Spiel bleicher, feiner Hände ist mir gegenwärtig. Man war sehr gütig zu mir, Hartmann mochte das Verkrampfte, Ungelöste in mir durchschaut haben. Er empfahl mir als Gegengewichte dringend Sport, Tennis, körperliches Spiel, - kurz das, was ich bis jetzt immer absichtlich gemieden hatte.«

Zum Studieren geht Ziegler nach Heidelberg - eine unglückliche Wahl, bedenkt man, daß die Stadt in jenen Jahren, wie überhaupt der gesamte südwestdeutsche Raum, Hochburg des Neukantianismus gewesen ist. Ziegler, ernüchtert, will sich auf eigene Faust einen Namen machen und veröffentlicht bereits 1902 und 1903 seine ersten beiden Bücher »Zur Metaphysik des Tragischen« und »Das Wesen der Kultur«. Letzteres kann durch Vermittlung von Drews im Diederichs Verlag erscheinen, wie auch 1905 eine umgearbeitete Fassung von Zieglers Dissertation unter dem Titel »Der abendländische Rationalismus und der Eros«. Der Plan, sich zu habilitieren, scheitert indes an der Ablehnung der philosophischen Fakultät in Freiburg, wo man Ziegler nicht ernst nimmt und Heinrich Rickert ein zwar freundlich formuliertes, aber in der Sache vernichtendes Urteil über die Dissertation fällt. Er hält sie offenbar für ein verworrenes Sammelsurium angelesener und unverstanden gebliebener Ideen, das, so der Haupteinwand, den Punkt vermissen lasse, an dem Ziegler die Wissenschaft konkret gefördert habe.

Was folgt, ist eine tiefe Krise. Die nahezu totale Wirkungslosigkeit seiner Bücher wird von Ziegler, wie er im Januar 1906 an Hofer schreibt, als »Leichenbegräbnis bei lebendigem Leibe« empfunden. Ein Jahr später heißt es angesichts der gescheiterten Habilitation in einem Brief an den Freund: »Wenns so weitergeht, hab ich alle Hoffnung, so ein verpfuschtes Dasein zu werden, wie man sagt.« Doch schmerzlicher noch ist für Ziegler, daß er auch philosophisch, im Denken selbst, sich seiner Sache nicht mehr sicher ist. »Leider habe ich nämlich im vergangenen Winter erkennen müssen«, schreibt er im April 1907 an Hofer, »daß meine bisherigen Bestrebungen auf einem vollkommen falschen Fundament aufgebaut waren. Wenn ich so weitergemacht hätte, wäre ich irgendwo im Bodenlosen geendet, es war gerade die höchste Zeit, daß ich einsah, wozu das führt. Und so mußte ich buchstäblich von vorn anfangen - ein Prozeß, in dem ich noch begriffen bin. Meiner so durchaus aufs Positive gerichteten Natur war dies höchst beschwerlich und ich habe derart eine schier unerträgliche Zeit hinter mir.«

Die wichtigste Stütze während dieser Zeit der tiefsten Orientierungslosigkeit findet Ziegler in seiner Geliebten und Verlobten Johanna Keim. Doch das Verhältnis ist überschattet davon, daß Johannas Vater, der von Ziegler nicht viel hält, und Leopolds Mutter, die sich von ihrem Sohn nicht lösen kann, bis zuletzt versuchen, die Heirat der beiden zu verhindern - umso mehr, als Ziegler im Sommer 1907 schwer erkrankt und nach Meinung der Ärzte nicht mehr lange zu leben hat. Die Diagnose lautet auf Muskelschwund. Doch die Heirat wird durchgesetzt, und wenig später stellt sich heraus, daß es sich bei der Krankheit nicht um Muskelschwund handelt, sondern um eine Hüfttuberkulose - es ist dieselbe Krankheit, an welcher der Vater so früh gestorben war. Ziegler erholt sich, wenn auch nur langsam, unter großen Schmerzen und mit dauerhaft geschädigtem Hüftgelenk. Von seinem früheren Leben fühlt er sich jetzt wie durch einen Abgrund getrennt. Die veröffentlichten Bücher erscheinen ihm als »drei elende Frühgeburten«, und noch viel später hat Ziegler über seine Dissertation »Der abendländische Rationalismus und der Eros« gesagt, die Arbeit sei ebenso schlecht wie ihr Titel - er hat dem Urteil von Heinrich Rickert also nachträglich recht gegeben. »Es ist mir oft«, heißt es in einem Brief von Ende 1908 an Hofer, »als hätte diese schreckliche Krankheit kommen müssen, um mir die Augen aufzumachen über die krankhafte geistige Sphäre, in der ich früher gelebt habe. Ich werde allgemach frei von Übertriebenheiten und Überspannungen meines innern Lebens, von jenem unerträglichen Hochdruck eines viel zu entwickelten Ehrgeizes und phantastischer Ideen, die in Deutschland, wie es scheint, manchen aus der Bahn schleudern.«

Ziegler möchte jetzt vor allem eines: Zeit haben, um sein Denken sich klären zu lassen, endlich zu dem vorzustoßen, was ihm bei aller Selbstkritik doch gewiß und gegenwärtig ist als eine persönliche und philosophische Substanz, die es zu entfalten gilt. Das ist ein Prozeß, der mehrere Jahre in Anspruch nimmt. Seine Frau Johanna, mit der er sich in Ettlingen bei Karlsruhe eingerichtet hat, also noch immer in der Nähe seiner Mutter, unterstützt ihn dabei, indem sie für alle Belange des täglichen Lebens sorgt und ihren Mann möglichst von der Außenwelt abschottet. Zunächst müssen die Idole seiner Jugend gestürzt werden. Diesem Zweck dienen das schmale, 1910 veröffentlichte Buch »Das Weltbild Hartmanns«, das mit der eigenen früheren Begeisterung für den Philosophen abrechnet, und der in demselben Jahr in der Zeitschrift »Logos« veröffentlichte Aufsatz »Wagner. Die Tyrannis des Gesamtkunstwerks«. Doch Zieglers Arbeit dieser Jahre erschöpft sich keineswegs in der Kritik. Es sind vor allem die weiterhin von seinem Freund Karl Hofer und bald auch von dem Bildhauer Karl Albiker angeregten kunstphilosophischen Reflexionen, die Ziegler dazu verhelfen, einen neuen philosophischen Standort zu erlangen, sich ein wirkliches Fundament seines Denkens zu errichten. Von diesem Standort, diesem Fundament legt das 1912 bei Meiner in Hamburg erschienene Buch »Florentinische Introduktion. Zu einer Philosophie der Architektur und der bildenden Künste« Zeugnis ab. Es enthält, als Ertrag einer Italienreise, Ausführungen zum Begriff der künstlerischen Form, die in ihrer Klarheit und Schönheit alles bis dahin von Ziegler Geschriebene übertreffen. Auch läßt sich feststellen, daß Ziegler jetzt erstmals die Kraft der konkreten Analyse besitzt, nicht mehr nur, wie früher, die Gabe allgemeiner Anschauungen. Jetzt wird deutlicher, was es heißt, daß Ziegler sich mit der Kunst keineswegs um ihrer selbst willen beschäftigt. Es geht ihm darum, auf dem Weg der ästhetischen Erfahrung einen umfassenden philosophischen Begriff von Erfahrung überhaupt zu gewinnen, der sich letztlich nicht denken läßt ohne Verankerung in der Struktur des Religiösen. Zu einem erstaunlich frühen Zeitpunkt erfaßt Ziegler ein Problem, aus dem später, Anfang der zwanziger Jahre, Walter Benjamin den Hauptantrieb zu seiner Arbeit »Ursprung des deutschen Trauerspiels« ziehen, und das der Dichter Konrad Weiß 1927 treffend das »bürgerliche Kunstproblem« nennen wird. Es ist das Problem der bürgerlichen Erfindung der Kunst als eines autonomen Gebiets und damit auch das Problem der Erfindung der Kunstgeschichte, die davon ausgeht, zu allen Zeiten habe es den Typus des »Künstlers« gegeben, der »Kunst macht« in einem freien kreativen Prozeß und in einem jederzeit bewußten Kontinuum von Einfluß und Auswirkung. Ziegler gelangt nun aber, in Opposition zu den herrschenden akademischen Anschauungen seiner Zeit, zu der entgegengesetzten Erkenntnis, die er immer weiter vertiefen wird: daß es eine Kunstgeschichte in diesem Sinne vor 1800 überhaupt niemals gegeben habe, daß es sich vielmehr um Rückprojektionen unserer modernen Situation handelt. In Wahrheit hat es niemals in der Geschichte den frei schaffenden »Künstler« gegeben, der »Kunst gemacht« hat, sondern einzig den religiösen Menschen, der die Bedeutungswelt seines Glaubens und seiner Welterfahrung in Formen gegossen hat, die wir heute als künstlerische und als ästhetische Formen beschreiben, obwohl es für den Menschen früherer Jahrhunderte Formen von unmittelbar religiöser, numinoser Qualität gewesen sind.

Hier, an dem Punkt dieser Einsicht, entzündet sich in Ziegler der Plan zu seinem ersten großen Hauptwerk »Gestaltwandel der Götter«, das ihm 1920 den lange ersehnten Erfolg bringen wird. Der Gehalt des Buchs läßt sich wiefolgt zusammenfassen: was für die künstlerische Form gilt, daß sie ein Bewußtsein von selbst nicht künstlerischer, nämlich vielmehr religiöser oder numinoser Struktur spiegelt, das soll auch für sämtliche anderen Gebiete und Ausprägungen menschlichen Lebens und Handelns gelten. So erweitert sich der Begriff der »Form« zu dem der »Gestalt«, und an die Stelle einer allgemeinen Kulturgeschichte tritt die einer Religionsgeschichte, die davon ausgeht, daß es im Grunde keine Säkularisierung gibt, sondern nur einen unaufhörlichen Wandel eben der Gestalten, in denen das Göttliche sich für den Menschen kundtut. Ein Bruch habe sich aber im Spätmittelalter ereignet, als die nominalistische Position, wonach Begriffe willkürliche Zuschreibungen sind, über die realistische siegte, wonach ein Begriff jeweils dem wahren Wesen der Sache entspricht. Durch diesen Bruch habe sich das menschliche Bewußtsein allererst von seinem göttlichen oder numinosen Ursprung entfernt und jenem Prozeß Raum gegeben, den Ziegler die »Verwissenschaftlichung des Geistes« nennt. Das Endstadium dieses Prozesses sei die von Nietzsche diagnostizierte Entwertung aller Werte, der Nihilismus. Aber auch in der nihilistischen Lage der Gegenwart tue sich letztlich nur ein Gestaltwandel des Göttlichen kund, das jetzt vom Menschen fordere, sich selbst zu vergöttlichen, selbst Gott zu werden - nicht aber im prometheischen Sinne der Selbstüberhebung und Machtentfaltung, sondern im Gegenteil in dem demütigen Sinne einer Entäußerung von aller Macht: eine friedfertige Religion ohne Gott, eine Art europäischer Buddhismus.

Es sind entbehrungsreiche Jahre, in denen Ziegler an diesem seinem ersten großen Hauptwerk arbeitet. Die Niederschrift dauert von November 1916 bis August 1919, aber schon 1914 spricht er von der in Planung befindlichen Arbeit als von »meinem religiösen Buch«. Zuvor entstehen unter dem Eindruck des Kriegsausbruchs 1914 noch zwei schmalere Bücher, die oftmals herangezogen werden, wenn es darum geht, Ziegler in das Panorama der sogenannten »Konservativen Revolution«, der intellektuellen Rechten im frühen 20. Jahrhundert einzuordnen: »Der deutsche Mensch« und »Volk, Staat und Persönlichkeit«. Anfang der zwanziger Jahre heißt es im Rückblick: »Der Völkerirrsinn ergriff in seinem ersten Anfall auch mich, mehr als es einem Philosophen ziemlich war; mit einem Gemisch von Verwunderung und Grauen denk' ich an einige Tage zurück, wo ich der Suggestion der Masse erlag und selber Masse wurde.« Bemerkenswert daran ist weniger, daß auch Ziegler kurzzeitig von jener epochalen Tendenz des Bellizismus ergriffen worden war, als daß er zu einem so frühen Zeitpunkt bereits Distanz zum eigenen Erleben gewinnt und das Geschehene selbstkritisch reflektiert, statt es für eine deutschnationalistische Ideologie fruchtbar zu machen. 1918 schreibt er an Walther Rathenau, mit dem er in diesen Jahren korrespondiert, und der sich interessiert an Zieglers Arbeiten zeigt, den unmißverständlichen Satz: »unser aller Irrtum heißt: das Volk.« Und in demselben Brief heißt es: »Sie torkeln in den Frieden wie sie in den Krieg getorkelt sind, ohne Willen, ohne Richtung, ohne Ziel: es sei denn das ewig infame: bereichert euch! (...) Es rächt sich jetzt aufs bitterste, daß das Zeitalter des Hochkapitalismus die Wirtschaft als ein souveränes Lebensgebiet gewertet hat, welches nur seiner eigenen Gesetzlichkeit zu folgen brauchte. (...) Jetzt ist durch den Krieg der Mensch in einem Maße verwirtschaftlicht, wie nicht einmal in der Periode des Hochkapitalismus - und eine Rettung ist nicht mehr abzusehen. Ich für mich persönlich bin davon überzeugt, daß das Experiment ›Europa‹ mißglückt ist, der Krieg der Anfang vom Ende, der Beginn einer wachsenden Barbarisierung. Wir können das Hemd des Nessos nicht mehr von unserm Leibe ziehen, denn es ist unversehens unsere Haut geworden. Dem Einzelnen bleiben nur zwei Auswege: der freiwillige Tod oder die innere Ablösung, die Abkehr. Auf sie bereite ich mich vor in einem Werk, das mir sehr über den Kopf gewachsen ist.«

Das Werk, von dem Ziegler hier spricht, ist zu diesem Zeitpunkt noch der »Gestaltwandel der Götter«. Aber auch in den folgenden, den Jahren der Weimarer Republik und der allgemeinen politischen Radikalisierung, ist der Philosoph nicht der wachsenden nationalistischen Versuchung erlegen, auch wenn der Titel seines zweiten großen Hauptwerks »Das heilige Reich der Deutschen« eben dies zu suggerieren scheint. In einer selbst verfaßten Voranzeige zu dem Buch heißt es indes: »Der gegenwärtige Zustand der Deutschen flößt Besorgnis ein. Nicht eigentlich unserer Niederlage wegen, und sogar nicht einmal wegen der verheerenden Folgen, die eine Niederlage solchen Ausmaßes unabwendbar nach sich ziehen mußte. Sondern viel eher darum, weil wir noch immer mit jedem Tage, der uns von Versailles entfernt, die bare Unfähigkeit zu erkennen geben, diese Niederlage zu ertragen oder uns mit ihr abzufinden, geschweige denn, daß wir sie von innen her zu überwinden und auszuheilen lernten.« Alles Militärische und Kriegerische, ja überhaupt jeder gewaltsame Bruch in der Geschichte, auch das, was er Nietzsches »Katastrophismus« nennt, ist ihm zuwider; der einzige Ausweg scheint ihm der einer inneren Läuterung zu sein, deren Idee er nicht nur in seinen Büchern mahnend aufrichten, sondern auch in seinem Leben vorbildlich realisieren will. Die fehlende praktische Veranlagung, unter der er in der Vergangenheit mitunter gelitten hatte, sieht er jetzt als ein Glück, als sein Glück an, ermöglicht dieses Fehlen es ihm doch, einen mystischen inneren Menschen von der äußersten Friedfertigkeit in sich zu realisieren, der möglichst nach dem Motto leben will: »Nichts Lebendiges töten!«

Der Begriff der Abkehr, den Ziegler in dem zitierten Brief an Rathenau gebraucht hatte, war denn auch ganz wörtlich gemeint. Seit Ende 1918 leben Leopold und Johanna Ziegler im Hinterland von Lindau. Sie haben dort einen Bauernhof erworben, um der drohenden Nachkriegsnot zu entgehen und sich fortan selbst versorgen zu können. Das bedeutet, daß Johanna unermüdlich von früh bis spät auf dem Feld, mit den Tieren, auf dem Markt beschäftigt ist, während ihr Mann an seinen Manuskripten arbeitet und seine wachsende Korrespondenz erledigt. Als dann endlich »Gestaltwandel der Götter« erscheint, 1920 in erster und zweiter, 1922 in dritter Auflage veröffentlicht, wird das Buch Zieglers erster größerer Erfolg. Den Gedanken einer »Religion ohne Gott«, welche einzig imstande sei, den Kontakt des modernen Menschen zum verloren gegangenen »Heiligen« wiederherzustellen, diese Vision eines kommenden europäischen Buddhismus, hat er dann schon wenig später weitergeführt in dem Buch »Der ewige Buddho. Ein Tempelschriftwerk in vier Unterweisungen«. Als Ziegler sich hingegen wenige Jahre später zum Christentum bekennt - seine beiden Bücher »Magna Charta einer Schule« (1928), der Entwurf eines idealen Lehrplans für den Schulunterricht, sowie »Der europäische Geist« (1929), eine kleinere, von Novalis beeinflußte Schrift, legen Zeugnis ab von diesem Schritt -, können viele Leser ihm nicht folgen und werfen ihm einen Bruch mit den früheren Intentionen vor. Ziegler indes hat rückblickend stets das Moment der Kontinuität in seiner Entwicklung betont. Nimmt man diese Selbstdeutung ernst, so wird man den Schlüssel zu dem kontroversen Übergang in den beiden Büchern »Das heilige Reich der Deutschen« (1925) und »Zwischen Mensch und Wirtschaft« (1927) zu suchen haben. Letzteres enthält eine für Zieglers weitere Entwicklung überaus wichtige Auseinandersetzung mit dem Marxismus. Gegen dessen deterministische Geschichtsphilosophie ein spezifisch christliches Bild von der Geschichte zu zeichnen, wird zum Hauptanliegen von Zieglers jetzt sich vorbereitender Spätphilosophie, welche ganz im Zeichen seines wohl bekanntesten Theorems steht: dem des »Allgemeinen Menschen«, als dessen Grundlegung das dritte, 1936 veröffentlichte Hauptwerk »Überlieferung« gedacht ist.

Zu betonen ist, daß Zieglers Weg zum Christentum nicht gleichbedeutend ist mit einem Weg zur Kirche oder zu einer konfessionell gebundenen Theologie. In »Magna Charta einer Schule« stellt Ziegler unmißverständlich fest, »daß wir nach einem Christentum oberhalb aller Bekenntnisse und Kirchen trachten müßten, dem abträglichen Machtkampfe kultischer Organisationen ein für allemal entrückt«. Und er fügt hinzu, »daß dieses angestrebte Christentum jenseits der Konfessionen mit aufrichtiger Unbefangenheit hineinzustellen sei in den größeren Kreis universaler Religionen, deren Wettbewerb es so lange ausgesetzt bleibt, bis es eines Tages seine behauptete Überlegenheit durch den menschlichen Rang der von ihm erzogenen Völker und Rassen unwiderleglich erhärtet haben wird«. Den christlichen Kirchen ist nach Ansicht Zieglers aufgetragen, die nicht allein sämtliche Gebiete des Lebens, sondern auch sämtliche nicht-christlichen Völkerüberlieferungen umspannende Katholizität des Glaubens im Vollsinne des Wortes zu erweisen und zu realisieren. Ziel bleibt der bereits in »Gestaltwandel der Götter« anvisierte Stand des Menschen in der »Heiligkeit«, die Rückverbindung zum noch ungebrochenen »heilen Sein«, dessen Träger, so Ziegler in Anknüpfung an die Forschungsergebnisse der Religionswissenschaft, als mythischer Erster und Allgemeiner Mensch nahezu sämtlichen vorchristlichen Überlieferungen bekannt gewesen sei. In der Gestalt Jesu Christi habe dieser mythische Allgemeine Mensch sich leiblich offenbart und der Geschichte so ihre geheime Endabsicht, ihr Eschaton zugewiesen. Christliche »Nachfolge« heißt demnach in der Interpretation Zieglers, durch Rückverbindung an den heiligen und überzeitlichen Ursprung der Schöpfung im Allgemeinen Menschen den Stand des »Seins« wiederherzustellen, wobei die Perspektive sich von der initiatischen Tat des Einzelnen und dem Heil der Gruppe oder des Volkes, zunehmend ins Menschheitliche und Universale weitet. Das alles ist für Ziegler bereits in den Worten des hl. Augustinus enthalten, die er dem Buch »Überlieferung« 1936 als Motto voranstellt. Sie lauten: »...denn die Sache selbst, welche jetzt christliche Religion genannt wird, war auch bei den Alten und mangelte vom Anbeginn des Menschengeschlechtes mit nichten, bis Christus im Fleische erschien; von da ab begann die wahre Religion, die eh und je gewesen, die christliche zu heißen.« Jedoch beschränkt sich Ziegler keineswegs darauf, die Spuren Christi im Alten Testament, bei den Griechen, im Vorderen und Mittleren Osten zu suchen. Seine Untersuchungen sprengen den von der katholischen und evangelischen Theologie, hier im besonderen der Religionsgeschichtlichen Schule, vorgegebenen Rahmen. Zieglers wahrhaft universaler Zugriff läßt ihn vielmehr auch die Überlieferungen der Germanen und der Kelten, der Inder und der Chinesen, der Indianer und der Afrikaner einbeziehen.

Doch so eigenwüchsig sich Zieglers Spätwerk diesbezüglich auf den ersten Blick präsentiert - das Buch »Überlieferung« und die auch für die noch nachfolgenden Werke so wichtige Idee des Allgemeinen Menschen sind nicht denkbar ohne den Einfluß der sogenannten Integralen Tradition, einer von dem Franzosen René Guénon begründeten Denkrichtung. Guénon, 1886 geboren und von Ziegler erstmals in den deutschen Sprachraum eingeführt, wo er aber bis heute - nur weniges ist übersetzt - eher unbekannt geblieben ist, war ein Esoteriker und Religionsphilosoph, der 1912 in einen seit dem 13. Jahrhundert bestehenden Sufiorden aufgenommen wurde und kurz darauf nach Kairo zog, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1950 gelebt und gewirkt hat. Von ihm hat Ziegler die Idee einer sämtlichen Völkerüberlieferungen zugrunde liegenden Urüberlieferung übernommen, an welcher der Mensch noch der heutigen Zeit auf dem Wege einer sein inneres Wesen umformenden réalisation métaphysique teilhaben könne. Man könnte Zieglers Spätwerk insgesamt als den Versuch einer spezifisch christlichen Variante der Integralen Tradition deuten. Das unterscheidet ihn von beinahe sämtlichen anderen Vertretern dieser Denkrichtung, die das Christentum im wesentlichen als Verfallsgeschichte gedeutet und sich bevorzugt anderen Traditionen, vor allem dem Islam angeschlossen haben. Die Betonung des Zeitlichen und Existentiellen im Christentum mußte diesen Denkern, die auf der Suche nach der Urtradition als einem ewigen Bestand gültiger Symbole waren, als ein ungeheurer Verlust erscheinen. Dieser Perspektive setzt Ziegler eine spezifisch christliche Fassung der Integralen Tradition entgegen. Während die Herrschaft der Geschichte, der Zeit, des Werdens vom Standpunkt der Tradition im Sinne Guénons aus betrachtet nur als Reich des Trugs und des Abfalls von dem als ursprünglich vorgestellten überzeitlichen Stand des Bewußtseins im Sein gewertet werden kann - wie denn auch der Begriff der Tradition als solcher für Guénon keineswegs die exoterischen Güter zeitlicher Überlieferung, sondern allein den esoterischen Bestand einer dem Wandel der Zeit nicht unterworfenen Doktrin bezeichnet -, so führt die zeitlich-heilsgeschichtliche Erwartung eines einbrechenden Eschaton den Christen Ziegler umgekehrt dazu, gerade in der Geschichte das Feld der Verwirklichung des Absoluten zu sehen, ohne den inneren Prozeß dieser Verwirklichung mit dem zeitlichen Verlauf als solchen gleichzusetzen, wie es der Perspektive eines gänzlich säkularisierten Messianismus entspräche. Diese Abgrenzungen führen zu Zieglers spezifischer Auffassung von christlichem Geschichtsdenken, zu seinem immer tieferen Bedenken der Konstellation, die sich daraus ergibt, daß gerade die Geschichte, wie Ziegler 1929 in einem Brief an Friedrich Gundolf schreibt, »immer wieder bewegt und fortgetrieben werde durch ihrer Intention nach über- und außergeschichtliche Momente, die nur als Einbruch in sie deutbar werden«. Die vier großen Hauptwerke, die auf den »Gestaltwandel der Götter« noch folgten - »Das heilige Reich der Deutschen«, »Überlieferung«, »Menschwerdung«, »Das Lehrgespräch vom Allgemeinen Menschen« -, sie alle entspringen der über einen Zeitraum von dreißig Jahren hinweg immer neu ansetzenden und immer tiefer dringenden Meditation dieser Konstellation.

Daß Ziegler nun auch endlich äußerlich die Ruhe findet, die seine meditative Arbeitsweise erfordert, verdankt er der Gunst von Mäzenen und später von ihm, dem kinderlos Gebliebenen, so genannten »Wahlsöhnen«. So kann Ende 1925 hier in Überlingen das Haus in der Goldbacher Straße bezogen werden, von Ziegler liebevoll das Efeuhaus genannt. Hier erlebt der fortan in bescheidenen, aber gesicherten Verhältnissen lebende Philosoph seine erfolgreichsten Jahre - mit dem Höhepunkt des Goethepreises der Stadt Frankfurt, der ihm 1929 als drittem Träger nach Stefan George und Albert Schweitzer verliehen wird. In diesen Jahren seiner christlichen Wende entfaltet Ziegler entgegen seiner sonstigen Gewohnheit auch eine rege Vortragstätigkeit zu aktuellen Fragen der Politik, der Technik, des Wirtschaftslebens. Dem schrankenlosen Materialismus und Ökonomismus mit einem menschlichen Konzept von Wirtschaft zu begegnen, ist in diesen Jahren eine seiner zentralen Ideen. Ziegler, bislang auf ostentative Weise weltfremder Philosoph, sucht jetzt nach Möglichkeiten, aktiv das politische und das Wirtschaftsleben mitzugestalten. In einem Rundfunkvortrag anläßlich der Verleihung des Goethepreises vertritt Ziegler gar die Auffassung, der Philosoph dürfe sich künftig nicht mehr damit begnügen, nur »Wächter der platonischen Idee« zu sein. Und er präzisiert: »Die wissenschaftliche Arbeit am Begriffe, das erkenntnismäßige Begreifen ist für den Philosophen nur noch insofern Hauptgeschäft seines Lebens, als sie seinen unmittelbaren Zugriff und Eingriff in die Verhältnisse der Wirklichkeit vorbereitet. Nicht die Feststellung dessen, was gegeben ist, liegt dem eigentlichen Denker ob, sondern mindestens ebensosehr die Zielstellung, welche das Gegebene in dem tief anzüglichen Sinne des Wortes ›richtet‹.«

Dieses »Richteramt« des Philosophen wird Ziegler schon bald auch aktiv einzunehmen versuchen, als Anfang der dreißiger Jahre die nationalsozialistische Gefahr immer drohender wird. Ziegler, einerseits kein Freund des Weimarer Parteienstaats, macht sich andererseits keine Illusionen darüber, was es mit Hitler und seiner Bewegung auf sich hat. Im April 1932 verfaßt er im Auftrag des Überlinger Hindenburgausschusses anonym einen Wahlaufruf unter der Überschrift »Warum Hitler nicht?«. In der Antwort heißt es unter anderem: »Weil er die verheißungsreichste Volksbewegung der Deutschen zur Aufpeitschung übelster Masseninstinkte mißbraucht! Weil er in seinen Versprechungen zweideutig und maßlos ist, die Grenzen zwischen Unmöglich und Möglich geflissentlich verwischt und namentlich der Jugend das Wunsch- und Trugbild eines diesseitigen Paradieses vorspiegelt!« Seine eigenen politischen Vorstellungen hatte Ziegler demgegenüber 1931 in einem kleinen Büchlein mit dem Titel »Fünfundzwanzig Sätze vom deutschen Staat« zusammengefaßt. Darin stellt er, unter dem maßgeblichen Einfluß der Ideen Othmar Spanns und Edgar Julius Jungs, mit dem er sich in diesen Jahren auch persönlich anfreundet, dem seiner Ansicht nach zum Scheitern verurteilten Parteienstaat Weimars die Idee eines theologisch fundierten und hierarchisch gegliederten »Körperschaftsstaates« gegenüber, in welchem das Staatsoberhaupt in direkter Weise vom Volk gewählt werden solle. Man könnte bei diesen Vorstellungen Zieglers und Jungs von einer Politischen Theologie sprechen, die sie gegen den totalen Staat ins Feld führen zu können hofften. Ziegler trägt seine Vorstellungen auch dem Reichskanzler Brüning vor, und noch im Frühjahr 1934 sucht er den freilich zu diesem Zeitpunkt längst macht- und einflußlosen Franz von Papen in Italien auf, um ihn dazu zu bewegen, seine Stimme gegen Hitler zu erheben. Noch jetzt halten Jung und Ziegler es für möglich, den Nationalsozialismus in ihrem konservativen Sinne »umpolen« zu können.

Erst die Ermordung Jungs nach den Ereignissen des 30. Juni 1934 offenbart, wie naiv diese Hoffnungen von Anfang an gewesen sind. Ziegler, der auch seine eigene Verhaftung, wenn nicht Ermordung fürchten muß, flieht in die Schweiz, kehrt aber schon nach zwei Monaten nach Überlingen zurück, da Jung rechtzeitig alle Briefe Zieglers hat vernichten können und insofern keine direkte Gefahr mehr besteht. Die Zeit der politischen Wirksamkeit ist freilich jetzt vorbei, und Ziegler zieht sich zurück, um sein Buch »Überlieferung« fertigzuschreiben, das 1936 im Hegner Verlag erscheint. Und sogar noch ein weiteres Buch kann unter Hitler veröffentlicht werden: das 1937 erschienene Werk »Apollons letzte Epiphanie«, das die kunstphilosophischen Betrachtungen der Jugendzeit aufgreift, um sie in den Zusammenhang der in den Hauptwerken entfalteten Religionsphilosophie des Allgemeinen Menschen zu stellen. Danach aber verstummt Ziegler für die gesamten langen Jahre, die die Herrschaft der Nationalsozialisten noch währt. Sieben Jahre lang, bis 1944, arbeitet er in völliger Zurückgezogenheit an seinem zweibändigen vierten Hauptwerk »Menschwerdung«, einer monumentalen Auslegung der sieben Bitten des Vaterunser, die allerdings erst 1948 veröffentlicht werden kann.

Man geht, denke ich, nicht fehl, wenn man Zieglers erstes Überlinger Jahrzehnt, die Jahre von 1926 bis 1936, als seine insgesamt glücklichste Zeit betrachtet. Es sind zehn Jahre, in denen er als erfolgreicher Autor in den von ihm gewünschten sicheren Lebensumständen arbeiten kann. Das gilt, von der kurzzeitigen akuten Bedrohung abgesehen, selbst noch für die Zeit nach dem 30. Juni 1934. Man kann sagen, Ziegler, der innere Mensch in ihm, war mit den Jahren einer Sammlung und damit eines Glücks teilhaftig geworden, die ihn unangreifbar machten, mochte er sich in Deutschland nun auch vollkommen isoliert fühlen. Von diesem Glück legt ein Text Zeugnis ab, den Ziegler am 14. November 1935 in der »Frankfurter Zeitung« veröffentlicht hat, schlicht und einfach überschrieben: »Der Bodensee«. Der kurze Essay zeigt, im Kleid einer wunderschönen Landschaftsbeschreibung, zugleich das Maß an, in dem Ziegler sich noch immer als ein politischer Autor verstand, auch wenn er nicht mehr öffentlich als solcher auftreten konnte.

Ziegler beschwört hier mit seiner ganzen Liebe zum Detail »jenen glückhaften Rausch der Sinne, den uns Deutschen sonst nur der Süden spendet«. Den Gebildeten unter den Lesern mußte das als stehender Topos geläufig sein, seit Stefan George romanisches Formbewußtsein gegen die preußische Lebens- und Technikvergötterung aufgeboten und »deutsches Wesen« einzig in der Vereinigung von nordischer Romantik und südlicher Klassik, germanischer Stoffentfesselung und romanischer Formkraft verwirklicht gesehen hatte. Auch für Ernst Jünger und seinen Bruder Friedrich Georg gewann in diesen Jahren der »Süden« die metaphysische Bedeutung einer zugleich elementaren und formspendenden Fülle, wie sie der Deutsche aus sich selbst heraus nicht erlangen könne. Im Jahr 1935 geäußert, und sei es als Teil einer neutral sich gebenden Landschaftsbeschreibung, handelte es sich um einen Topos von unmittelbar politischer Stoßkraft.

Wenn Ziegler zudem den in den verschiedensten Farben und Schattierungen schillernden See als eine »selbstherrliche Gegebenheit« beschreibt, die eine »allgemeine Aussage, welches seine eigentliche Farbe sei, von vornherein gar nicht zuläßt«, so wird vollends deutlich, inwieweit der See hier zu einem Symbol für die Wirklichkeit, nicht zuletzt auch die politische Wirklichkeit im ganzen wird: die reine Phänomenalität der Dinge, auch der politischen Dinge, läßt sich nicht auf einen sie definitiv sich unterordnenden vorgängigen Begriff bringen, also auch nicht zentral und zentralistisch, total und totalitär ordnen. Als »selbstherrliche Gegenwart« wird der See zu einem Gleichnis für das Glück des philosophischen Lebens: des Beisichseins und Sichselbstgenügens. Und wenn Ziegler in der Folge, was den See in seinen Augen auszeichnet, das »Pathos seiner Geräumigkeit« nennt, so ist damit eine Weite von nicht allein räumlicher, sondern auch zeitlicher Dimension gemeint: die unvergängliche, »nichtvergeßliche« Gegenwart sämtlicher Spuren der Geschichte nämlich, welche dazu beitragen, daß hier, am Bodensee, »jeder Fußbreit der sichtbaren Landschaft draußen in ein Stück Seelenlandschaft drinnen« sich umsetzt. Das will im Jahr 1935 sagen: Was als Prinzip politischer Praxis und Gestaltung außer Reichweite liegt, die Freiheit zu Gott, von der insbesondere die am Bodensee so reich vorhandenen Zeugnisse des Mittelalters künden, bleibt als Prinzip individueller Lebenspraxis und -gestaltung in Kraft und immer möglich. Das ist der gedankliche Angelpunkt des Essays, mit dem das reine Landschaftsbild zum symbolischen Bedeutungsraum wird: eben zum Gleichnis für das Glück eines philosophischen Lebens, dem »Umstände« nichts anhaben können, und das seine politische Stoßkraft gerade aus der Distanz zieht, die es zu der Idee der politischen Wirkung, eines direkten politischen Engagements einnimmt.

War das Glück des philosophischen Lebens zwar seit 1933/34 von außen stets gefährdet gewesen, so bestätigte der Lauf der Dinge Ziegler andererseits doch nur in seiner Ansicht, eine Geschichte, die sich zu weit von ihren Ursprüngen entferne und sich dem anheimgebe, was Heidegger zur selben Zeit wie er selbst als »Seinsvergessenheit« kenntlich zu machen begann, eine Geschichte, die auf paradoxe Weise eben jene Wahrheiten vergesse, die Ziegler in wörtlicher Eindeutschung des griechischen Worts für »Wahrheit«, Aletheia, als das »Nichtvergeßliche« beschrieben hat, - eine derart »vergeßliche« Geschichte also müsse eben solch fatale Folgen zeitigen. »Der außer die Maße geratene Mensch«, schreibt Ziegler in einem Brief des Jahres 1937, »ist das Monstrum par excessum der Schöpfung, für den es keinen Namen gibt, ein ›Ding für sich‹ in seiner absurden Einmaligkeit, kein Tier mehr und auch nicht mehr Mensch: gezeichnet von Gott mit dem Stigma des Kain und dessen Fluch verfallen.« Unter diesen Vorzeichen fühlte sich Ziegler durchaus innerlich gerüstet für die einbrechende Katastrophe, deren Kommen er ahnte. Doch nicht allein das Zeitgeschehen trägt dazu bei, daß Ziegler sich mit seiner Arbeit zunehmend »mitten im Wirbel der apokalyptischen Stunde« fühlt, wie er im Juli 1942 an seinen Freund Reinhold Schneider schreibt. Vielmehr wird Zieglers Unangreifbarkeit von zwei Schicksalsschlägen auf die Probe gestellt, bei denen es sich um die wohl härtesten seines ganzen Lebens handelt: das Schwinden seines Augenlichts bis hin zur nahezu vollständigen Erblindung, sowie die Krebserkrankung seiner Frau Johanna, die 1940 nach langem, schwerem Leiden und nach kurzzeitiger hoffnungsvoller Besserung ihres Zustands stirbt. Ersteres, die Erblindung, führt dazu, daß Ziegler von nun an eine Sekretärin braucht, die sein Tageswerk begleitet, seine schwer lesbaren Notizen und Handschriften entziffert - mit dem Diktieren tut Ziegler sich schwer -, die seine Manuskripte anfertigt, Briefe abtippt, auch ihm aus Zeitungen und Büchern vorliest. Er findet diese Hilfe in Martha Schneider-Fassbaender, die 1978 die erste umfassende Beschreibung des Lebens und Werks von Ziegler vorgelegt hat - ein schön zu lesendes Buch voller persönlicher Erinnerung. Wichtiger noch als diese belastenden äußeren Umstände aber sind tiefgreifenden Verwandlungen von Zieglers innerem Leben angesichts des Todes seiner Frau, den er geradezu als Sieg über den Tod selbst erfährt. »Nicht einmal in den quälendsten Wochen«, schreibt Ziegler an Reinhold Schneider, vermochte das grausame Übel die Würde ihres bewußten Selbst zu verringern oder auch nur anzutasten; vielmehr schien sich ihre ganze Person erst jetzt zu ihren höchsten Möglichkeiten emporzustraffen. (...) Was war da noch hinzuzusetzen, wegzuwünschen, zu beklagen oder vollends anzuklagen? Wie mit einem Schlage war die Welt jetzt rund und heil, vollkommen und ›bewährt‹ - wie oben, so auch unten, nach dem Willen ihres Schöpfers. Mir aber deuchte der stumme Himmel von einem großen Jubel zu erdröhnen.«

»In der Welt habt ihr Angst. Ich aber habe die Welt überwunden«, spricht das Lamm in der Offenbarung des Johannes. Diese Worte stehen als Mantra über dem Leben dieser Jahre. Ziegler zitiert sie in einer kleinen Schrift, die er im Zusammenhang mit dem großen Buch »Menschwerdung« parallel fertigstellt, und der er den merkwürdigen Titel gibt: »Entwurf eines Michaeldromenons«. Ein »Dromenon«: das wäre eine Art dramatisches Spiel; ein »Michaeldromenon« wäre eine dramatische Aufführung der Johannesapokalpyse - eine Idee, die sich an Zieglers Beschäftigung mit den mittelalterlichen Mysterienspielen, etwa dem berühmten »Spiel vom Antichrist«, entzündet haben mag. Und daß es sich, drittens, um einen »Entwurf« von geringem Umfang handelt, zeigt an, daß Ziegler sich keineswegs vorgenommen hatte, selbst ein solches dramatisches Spiel zu dichten und zur Aufführung zu bringen, sondern daß er als Philosoph einem künftigen Dichter sozusagen vorzufühlen gedachte, dessen Amt kein geringeres sein würde, als den Zuschauern bzw. Teilnehmern des Dromenons wirklich und wahrhaft ein Stück michaelisches Bewußtsein einzuprägen, Kraft zum Kampf gegen den Antichrist. Ziegler meint es also ganz ernst mit seiner Ansicht, daß der Kunst ein Index der Erlösung eigne, daß Kunstgeschichte in einem noch weithin unergründeten Sinne Religions-, ja Heilsgeschichte sei.

Den philosophischen Hintergrund dieses kleinen Entwurfs bietet das zweibändige Werk »Menschwerdung«, Zieglers Auslegung der sieben Bitten des Vaterunser, die in nichts geringerem gipfelt als dem Versuch einer umfassenden Metaphysik des Bösen, wie Ziegler sie vor allem in den Werken Jakob Böhmes und Franz von Baaders vorbereitet sah. »Böhme und Baader«, schreibt Ziegler Ende 1941 an Reinhold Schneider, »haben mich in einem unglaublichen Maße inspiriert, und ich wage jetzt den Umriß einer ›Satanologie‹ zu geben, die der eigentlichen ›Soteriologie‹ erst ihren vollen Sinn gibt.« In diesem Sinne eines zu erwartenden Umschlags in die Erlösung, auf den die Entfesselung des Bösen in der Moderne hinauslaufe, hatte es bereits im September 1939 geheißen - und diese Briefstelle taugt durchaus zum Skandal, wenn man das Datum bedenkt: »Sehe ich (...) vom Persönlichen ab, das kummervoll genug ist, so finde ich, nachdem nun eingetroffen, was ich längst gefürchtet, vieles im Werden, das für eine künftige Zeit einmal ganz positiv zu bewerten sein könnte, falls es von den Ereignissen nicht erstickt, sondern getragen wird. Geschichtliches ist mit Übergeschichtlichem so stark verflochten und durchsetzt, Teuflisches mit Göttlichem, daß unser Urteil nicht mehr trennen und nicht mehr unterscheiden kann. Aber das ist genau die Signatur, die apokalyptische, eines sterbenden und eines sich selbst gebärenden Weltalters: auch in diesem Sinn ein ›Eschaton‹, daß es mit der Möglichkeit eines äußersten Verlustes die Möglichkeit eines äußersten Gewinnes verbindet und die Verzweiflung mit der Hoffnung, ja mit der Zuversicht gattet.«

Was Ziegler hier meint, sind natürlich nicht die zeitgeschichtlichen Ereignisse als solche, sind nicht Weltkrieg, Völker- und Rassenhaß, sondern ist ein Vorgang, den er ganz am Grund, in der Tiefe der Zeit wahrzunehmen glaubt, und der seiner ganzen noch folgenden Spätphilosophie nach dem Zweiten Weltkrieg ihr Gepräge geben wird. Es ist ein Vorgang, den er in »Menschwerdung« als »Entbilderung der Bilder« beschreibt, und dessen erkenntnistheoretisches Fundament in dem letzten, dem fünften großen Hauptwerk von 1956 ausgebreitet wird, dem »Lehrgespräch vom Allgemeinen Menschen«. Um diesen Gipfelpunkt des zieglerschen Denkens (wie ich meine) wenigstens noch zu streifen: die Idee einer »Entbilderung der Bilder« ersetzt die frühere Diagnose einer »Verwissenschaftlichung des Geistes« und geht nunmehr davon aus, daß der Verlust der mythischen Bilder und Gewißheiten in der Geschichte sich auf dem Weg einer Kritik des Rationalismus und der Wissenschaft überhaupt nicht erfassen läßt. Denn hinter der Ratio als Verberger des Mythos steht der Logos als der wahrhaft unvergängliche göttliche Name, als die übergeschichtliche Wirklichkeit des Heiligen; und je mehr wir die bloßen Bilder der Wahrheit verlieren, desto näher kommen wir dem eigentlichen Zentrum der Offenbarung und werden selbst zu jener Bilderschrift der Apokalypse, an deren Spitze das Bild des Lammes als Signatur einer Zeit der Erlösung steht, an deren Kommen wir mitwirken, ob wir wollen oder nicht. In dieser Idee des Logos besitzt Zieglers Spätphilosophie nach dem Zweiten Weltkrieg, die das ohnehin schon umfangreiche Oevre noch einmal um viele hundert Seiten erweitert, ihr konstruktives Zentrum.

Gewirkt hat Ziegler mit seinen späten Werken kaum mehr; aus der Vergessenheit, in die ihn die späten dreißiger und frühen vierziger Jahre gestoßen hatten, haben ihn die Nachkriegsjahre nicht wieder befreien können. Als 1948 »Menschwerdung« erscheint, bleibt das Echo gering; sein letztes und schwierigstes Hauptwerk, das »Lehrgespräch«, ist, wie man ohne Übertreibung sagen kann, überhaupt noch nicht rezipiert worden. Ziegler hat dazu seine eigene Meinung gehabt. »Die usurpierende Macht«, schreibt er an Reinhold Schneider, »läßt den Forscher, Denker, Dichter und Künstler, der wider den Stachel zu löcken wagt, einfach gar nicht an die Angesprochenen herankommen. Wir finden uns plötzlich auf die okkulteste Weise von der Welt bei einem Spiele mattgesetzt, welches längst nicht mehr wir selbst spielen, weil es sich längst selber spielt und wir einzig noch seine Figuren, Figuranten sind.« Auf der Erfolgsseite ist aber immerhin zu verbuchen, daß ihm, wenn man ihn schon nicht las, wenigstens Auszeichnungen verliehen wurden: 1951 der Titel des Ehrendoktors der Religionswissenschaft von der Universität Marburg, im selben Jahr der Titel des Professors von der Badischen Landesregierung, sowie der Gottfried-Keller-Preis. 1956 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz und den Bodensee-Literaturpreis. Nach seinem Tod aber geriet Ziegler schnell vollends in Vergessenheit, und man kann sagen, daß sein ganzes so großartig durchkomponiertes Werk im öffentlichen Bewußtsein selbst der Gebildeten bis heute eine Ruine geblieben ist gleich jener, zu der man das Efeuhaus in der Goldbacher Straße wie absichtlich gemacht hat.